Nearshore vs. Offshore - Hat Deutschland seine Chancen verspielt?
Kundenservice Outsourcing ist ein etabliertes Unterfangen. Es gibt viele Gründe, warum es in Deutschland über 2.000 Callcenter-Dienstleister, BPOs und Dialogmarketing-Agenturen zu einer Branche mit interessanten Margen gebracht haben. Immer mehr Gründe sprechen allerdings dafür, derart Services im Ausland einzukaufen. Nicht nur die prekäre Personalsituation in Deutschland auch die erschwerten politischen Rahmenbedingungen hierzulande öffnen Türen zu anderen Ländern innerhalb und außerhalb der EU. Die SQUT-Redakteure haben sich mit Dienstleistern, Mitarbeitenden und Unternehmen, die Callcenter-Dienstleistungen in Deutschland und im Ausland erbringen und einkaufen, unterhalten. |
Beim Outsourcing steht die organisatorische Verlagerung im Vordergrund, nicht die geografische. Welche Rolle aber spielt es für einen Hamburger Unternehmer, ob das Callcenter ein eigenes ist oder eine Dienstleistung eines Dritten? Und wie wichtig ist die Nähe von Auftraggeber zu Auftragnehmer? Suchen Hamburger in Hamburg und Münchner in München?
Die SQUT-Ausschreibungsplattform (www.squt.de) spricht täglich mit potenziellen Kunden für Callcenter-Dienstleister. Die Meinungen derer, die den Kundenservice bzw. Vertrieb und Marketing verantworten, sind da unterschiedlich. Ein Mix an Unwissenheit und Irrelevanz trüben den Blick auf die doch so wichtige Unternehmenseinheit mit dem Inhalt Kundenkommunikation.
Wenn Mitarbeitende bei einem Dienstleister die Marke eines anderen Unternehmens vertreten und täglich mit dem wertvollsten Gut dieser Unternehmen kommunizieren, nämlich deren Kunden, dann braucht es mehr als Gesprächsleitfäden und einer technischen Anbindung. Das Zusammenspiel zwischen Auftraggeber und Dienstleister spielt eine wesentliche Rolle beim Ausüben exzellenter Services. Die SQUT-Recherchen haben ergeben, dass Callcenter-Agent:innen gerne für prominente Marken mit gutem Ruf arbeiten. Hidden Champions, kleine und mittelständische Unternehmen, die nicht auf besonderen Markenwert zurückgreifen können, punkten mit tollen Produkten, günstigen Preisen und eben perfektem Kundenservice. Und um diesen zu erbringen, empfiehlt es sich, die Menschen hinter den Marken kennenzulernen und eine gemeinsame Ebene des Vertrauens zu schaffen. So entstehen Fans! Nichts scheint wertvoller, als Mitarbeiter:innen im Kundenservice, die Fans der eigenen Firma oder eben der Auftraggeber sind, sofern die Servicemitarbeiter:innen bei einem Outsourcing-Dienstleister arbeiten. Menschen arbeiten für Menschen – da sollte Harmonie und Teamspirit nicht fehlen. Da klingt es fast widersprüchlich, dass Unternehmer aus Deutschland mit Kunden in Deutschland sich dazu entscheiden, den Kundendialog von Mitarbeitenden aus Übersee erbringen zu lassen. Ist Offshoring oder Nearshoring nur ein Modell für international agierende Brands?
Was bedeutet Offshoring?
Der englische Begriff Offshoring – deutsch Auslandsverlagerung – bezeichnet eine Form der Verlagerung unternehmerischer Funktionen und Prozesse ins Ausland. Auslöser für eine Offshoring-Entscheidung sind in der Regel die im Ausland günstigeren Rahmenbedingungen, insbesondere bei den Arbeitskosten. Wenn man wenig Geld für Callcenter-Agent:innen ausgibt, kann man also mehr Mitarbeiter:innen an die Hotlines setzen und somit die Erreichbarkeit erhöhen. Ein wesentlicher Faktor bei jeder Kundenzufriedenheitsabfrage. Oder geht es den Auftraggebern, darum, Geld zu sparen ohne Mehrwert für den Kunden?
Was bedeutet Nearshoring?
Nearshoring beschreibt die Verlegung betrieblicher Aktivitäten ins nahegelegene bzw. nahestehende Ausland. Es wird als Sonderform von Offshoring aufgefasst. Für Deutschland gelten bzw. galten z. B. die Ukraine, Polen und Serbien als Nearshoring-Länder. Wer kauft Dienstleistungen wo ein?
Beispiel Türkei
Das Image der Türken kombiniert mit dem zweifelhaften Image der Callcenter an sich ergibt eine geradezu toxische Symbiose. Folgende Pressemeldungen belasten das Vertrauen in die Dienstleistungen aus dem mittleren Osten:
- „Senioren-Betrüger: Festnahmen in Call-Centern in Izmir“
- „Mutmaßliche Hintermänner der türkischen Callcenter-Mafia festgenommen“
- „Die Täter agieren aus Call-Centern in der Türkei, geben sich als Rechtsanwälte oder Notare aus und informieren die Angerufenen beispielsweise über den angeblichen Gewinn eines hohen Geld- oder Sachpreises.“
- „Prozess um ausgehobenes Callcenter in der Türkei hat begonnen“
Einzelfälle? Schwarze Schafe in einem sonst außerordentlich gastfreundlichen und serviceorientierten Land? Warum spielt die Türkei dennoch eine besondere Rolle für deutsche Unternehmer? Gehört die Türkei zur EU? Sind die Türken Europäer oder eher Asiaten? Wie verhält es sich mit der EU-DSGVO-Konformität?
Wir sprachen mit einem Projektleiter aus Istanbul, der über zehn Jahre in Berlin lebte, Wirtschaftswissenschaften studierte und seit drei Jahren wieder in seiner Geburtsstadt Istanbul lebt und arbeitet.
Sie wollen Kunden in Deutschland mit Ihren Services begeistern. Warum gerade Deutschland?
Deutschland ist ein interessanter Markt. Wir arbeiten gerne mit deutschen Auftraggebern zusammen, da wir hier eine enorme Verbindlichkeit feststellen. Der Arbeitsmarkt in Deutschland scheint komplett überhitzt. Daher können Callcenter-Dienstleister selten stabile Services erbringen. Da haben wir hier in der Türkei einen enormen Vorteil. Loyalität und Langlebigkeit gehören zu unserer Arbeitskultur.
Bieten Sie lieber Inbound oder Outbound an?
Das Outbound-Geschäft stellt jeden Unternehmer vor besondere Herausforderungen. Datenschutz und Erreichbarkeit spielen da eine übergeordnete Rolle. Zudem ist der Job des Telemarketers mit enormen Anforderungen verbunden. Die Motivation bleibt schnell auf der Strecke – nachvollziehbar. Wir sind gute Rebounder – schneller Rückruf von Kunden, die einen Anruf einfordern, zudem sind wir auf multilingualen Service und Support spezialisiert. Daher, um Ihre Frage zu beantworten: Lieber Inbound – in Ausnahmefällen bei Bestandskunden können wir aber auch professionelle Outbound-Kampagnen designen.
Sparen Ihre Auftraggeber Geld, wenn sie Sie mandatieren?
Sie meinen im Vergleich zu deutschen Callcentern? Ja! Wir offerieren attraktive Minutenpreise. Aber der eigentliche Einsparfaktor liegt darin, dass wir unsere Projekte im Griff haben und mit hoher Erreichbarkeit und Erstlösungsquote dem Auftraggeber messbare Mehrwerte liefern. Durch das Gehaltsniveau in der Türkei können wir uns Überkapazitäten erlauben, die sich sofort auf die KPIs auswirken. Aber es gibt auch sehr gute Dienstleister in Deutschland, denen stehen wir aber in nichts nach! Wir scheuen vor keinem Benchmark und schneiden bei Mystery-Calls in der Regel sehr gut ab.
Welche Rolle spielt dabei der Kurs der türkischen Lira?
Keine Ahnung! Das ist nicht mein Thema. Ich kümmere mich um Mitarbeiterzufriedenheit und professionellen Service für unsere Kunden.
Jeder Dienstleister verspricht hohes Qualitätsbewusstsein. Da haben Sie doch sicher durch die Entfernung schwierigere Voraussetzungen, oder?
Corona hat uns gelehrt, wie wir mit Distanz (nicht nur im Homeoffice) umgehen können und sollen. Wir sind mit perfekter Technik ausgestattet und immer nah an unseren Auftraggebern und Mitarbeiter:innen. Wöchentliche Videokonferenzen gehören zum Standard. Ich habe in Berlin als Callcenter-Dienstleister gearbeitet und teilweise monatelang keinen Kontakt zu unseren Auftraggebern (auch aus Berlin) gehabt. Livetreffen fanden auch so gut wie nie statt. Da war der Kanal Telefon in der Regel die Präferenz.
Bezüglich der deutschen Sprachkompetenz hört man doch aber sicher die türkischen Wurzeln Ihrer Callcenter-Agenten heraus, oder?
Nicht immer – aber ja – in der Tat gibt es da einen Wandel. Nicht nur bei uns zu Hause auch auf den Straßen von Berlin oder den Hotlines der großen Marken. Daran haben sich die Anrufer gewöhnt, wenn sie nicht selbst Migrationshintergrund haben. Also: Alles fein. Der Akzent ist nur ein Faktor im souveränen und verbindlichen, serviceorientierten Kundenkontakt.
Reisen Ihre Mitarbeiter:innen oder zumindest Projektleiter:innen nach Deutschland, um vis-à-vis mit den Kunden zu sprechen? Der persönliche Kontakt ist oftmals in Bezug auf Vertrauen schon wesentlich, oder?
Wir haben in Deutschland diverse Satelliten-Standorte. Diese Locations nutzen wir für Events als Motivation für unsere Mitarbeiter:innen. Kunden sind natürlich auch ein Teil unserer Community-Events in Deutschland. Das kommt immer sehr gut an.
Welche Nachteile haben deutsche Auftraggeber, wenn sie sich auf ein Offshore-/Nearshore-Modell mit Ihnen in der Türkei einlassen?
Absolut keine! Das kann ich garantieren und das ist auch ein Garantieversprechen in unseren Leistungsangeboten.
Vielen Dank für die Ein- und Ausblicke!
Die SQUT® -Redaktion
Statement der SQUT® -Redaktion: Als Betreiber der ältesten und größten Ausschreibungsplattform für Callcenter-Dienstleister im deutschen Markt (siehe: www.call-center.ag) fragen wir aktuell bei der Qualifizierung der ausgeschriebenen Projekte, ob der Kontakt zu Callcenter-Outsourcing-Partnern außerhalb Deutschlands gewünscht ist. Die Reaktionen hierauf sind sehr verhalten.
Thema Verhandlung mit türkischen Unternehmen: Hier werden die Türken dem Basar-Klischee permanent penetrant gerecht. Das ist einerseits charmant aber auch nicht immer angebracht.